Date: Winter 2009
Originally posted by Nuclear Blast
Author: Marcus Zemke
Zwei Stühle, eine Meinung
Mit »We Are The Void« (DARK TRANQUILLITY) und »Nifelvind« (FINNTROLL) haben
zwei Speerspitzen des skandinavischen Extrem-Metals neue Meisterwerke
veröffentlicht. Auf den ersten Blick gibt es zwischen diesen beiden Bands kaum
Überschneidungen. Zu unterschiedlich sind die Lebensläufe, das Alter und die
Musik. Im Gespräch mit Mikael Stanne und Mathias "Vreth" Lillmåns
stellt sich aber heraus, dass die beiden Frontmänner mehr als nur der
Oberbegriff Heavy Metal verbindet.
Es ist ein interessantes Experiment, das da im winterlichen Helsinki stattfindet. Mikael Stanne von DARK
TRANQUILLITY und Mathias "Vreth" Lillmåns von FINNTROLL sitzen sich
für ein Doppelinterview gegenüber. Auf der einen Seite der sympathisch offene
Schwede, der schneller als ein Maschinengewehr spricht. Und auf der anderen der
etwas verschlossenere Finne, der nicht minder freundlich ist, seine Worte
allerdings bedächtig abwägt und lieber gar nichts als zu viel verrät. Beide
Sänger verbindet, dass ihre Bands Anfang 2010 mit neuen Alben um die Ecke
kommen, die einige Überraschungen zu bieten haben. Beginnen wir mit FINNTROLL,
die mit »Nifelvind« ihren mit Abstand vielfältigsten Silberling abgeliefert
haben. Von Black Metal über Folk bis hin zu balladesken Tönen und poppigen
Melodien gibt es viel zu entdecken. "Das stimmt, auf der Scheibe sind alle
Elemente zu finden, die FINNTROLL jemals ausgemacht haben", meint Vreth.
"Wir haben im Vorfeld viele Demos produziert, um uns sicher zu sein, in
welche Richtung das Album geht. Im Studio überkam uns dann noch mal so eine
richtige Welle von Experimentierlust. Wir spielten mit Orchestrierungen und
diversen Instrumenten herum und trieben alles auf die Spitze." Ähnliche
Erfahrungen machte auch Mikael Stanne mit seinen Jungs, die sich zwar nicht
ganz so weit aus dem Fenster lehnten wie die finnischen Kollegen, aber auch
einige vermeintlich neue Elemente einbauten. "Mit »We Are The Void«
wollten wir einen Mittelweg zwischen unserem gewohnten Sound und einigen
Abenteuern finden. Ich denke, das ist uns gelungen. Vor allem das gothische
Element, das wir bisher nur touchiert hatten, kommt bei zwei Stücken (gemeint
sind 'Her Silent Language' und 'Iridium' ? Anm.d.A.) deutlicher heraus. Wobei
ich sagen muss, dass 'Iridium' in Ansätzen bereits 1996 geschrieben wurde.
Bisher hatte uns nur der Mut gefehlt, es auszuarbeiten und auf ein Album zu
packen. Dieses Mal schien es zu passen. Es macht viel Spaß, die eigenen Grenzen
zu verschieben. So bleibt es auch für uns spannend."
Tod und Teufel im Detail
Besagte eigene Grenzen hat Mikael auch in Sachen Texte verschoben. Denn das
gesamte Album beschäftigt sich mit dem Thema Tod. "Insgesamt sind die
Texte wahrscheinlich die ernstesten, die ich je geschrieben habe. Als wir in
jungen Jahren die Band gründeten, schworen wir uns, niemals über den Tod zu
singen. Denn das macht ja jede Death Metal-Band", lacht der Rotschopf.
"Aber mittlerweile sind wir alle älter geworden, und ich fühlte mich reif genug, um mich damit auseinander zu setzen. Es geht
auch nicht um die klischeehafte Seite des Todes, sondern vielmehr um das
menschliche Dasein und seine Folgen. Wir alle leben mit seltsamen Vorstellungen
im Kopf. Manche versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen, andere geben sich ihm
kampflos hin oder betäuben sich, um der Realität zu entkommen. Einzig die
Tatsache, dass für alle am Ende der Tod wartet, ist gleich." Im direkten
Vergleich dazu wirken die Texte von FINNTROLL fiktiver, was auch dem Image der
Band geschuldet sein mag. Trotzdem will Vreth das nicht so stehen lassen.
"»Nifelvind« handelt zwar von uralten finnischen Mythen, die seit vielen
Generationen weitergegeben werden. Aber wie wir alle wissen, wiederholt sich
Geschichte. Bei vielen Sagen, die wir ausgraben, stellen wir fest, dass sie
zwar tausend Jahre alt sein mögen. Aber das Ganze hätte ebenso gut heute
passiert sein können." Im Gegensatz zu den Kollegen aus Schweden haben
sich FINNTROLL dieses Mal nicht an ein Konzept gewagt. "Nachdem »Ur
Jordens Djup« ein solches zugrunde lag, wollten wir dieses Mal wieder etwas
freier agieren. Der Unterschied macht sich schon beim Cover bemerkbar, das
wesentlich simpler gestaltet ist. Uns sind die optischen Elemente sehr wichtig,
sie müssen perfekt zur Musik passen." Was in diesem Fall gelungen ist.
Gitarrist Samuli "Skrymer" Ponsimaa hat einmal mehr ganze Arbeit
geleistet.
Heiß und kalt
Eine weitere Übereinstimmung zwischen FINNTROLL und DARK TRANQUILLITY ist ihre
Reisefreudigkeit. Dabei werden allerdings nicht nur die üblichen Haltestellen
in den USA
und Europa abgeklappert. Mikael Stanne und Co.
spielten vor einigen Wochen zum Beispiel in Tunesien. "Es war ein
unglaubliches Erlebnis. Wir waren erst die vierte oder fünfte Metal-Band, die
überhaupt in diesem
Land spielen durfte. Vor
dem Konzert gaben wir ein Radiointerview und fragten, ob man in Tunesien
überhaupt unsere Alben kaufen könne. Der Moderator meinte glücklich, dass das
überhaupt nicht nötig sei, weil sie umsonst im Internet stehen würden. Na
großartig, haha. Aber das Konzert übertraf alle unsere Erwartungen. Als wir am
Club eintrafen standen da 200 Polizisten. Wir fragten, wofür die denn da seien.
Für das Publikum, war die Antwort. Wir überlegten noch, warum 200 Bullen für
vielleicht 200 Fans eingesetzt werden, da standen wir plötzlich über 4000
Freaks gegenüber. Gut, dass wir in letzter Minute noch unser Merchandise
eingepackt hatten. Das wollten wir ursprünglich nämlich zu Hause lassen. Der
ganze Trip war ein Sprung ins kalte Wasser, aber er hat sich gelohnt."
"Bei uns steht etwas ähnliches an", schaltet sich Vreth ein.
"Demnächst spielen wir in Israel
und haben ebenfalls keine Ahnung, was uns erwartet. Der Gig ist eine echte
Wildcard. Wir sollten vor Jahren schon mal dort auftreten, aber das ging aus
irgendwelchen Gründen daneben. Wir bekommen viele Mails aus diesem Land,
es scheint eine richtige Fanbasis zu geben." Und das obwohl Israel in einem
völlig anderen Kulturkreis liegt, und die Menschen nicht so einfach Zugang zu
den Mythen und Sagen Finnlands finden dürften. "Das habe ich mir auch
schon überlegt. Finnland liegt wirklich 'ne Ecke weg von Israel, haha.
Aber es scheint zu funktionieren." Gleiches gilt für die USA, die FINNTROLL nach dem Paganfest in Europa
(Vreth: "Ich freue mich
schon auf meine Freunde von ELUVEITIE.") gemeinsam mit ihren Landsleuten
von MOONSORROW, SWALLOW THE SUN und SURVIVORS ZERO bereisen werden. "Es
ist das erste Mal, dass so ein rein finnisches Package durch die Vereinigten
Staaten reist. Das wird großartig! Denn in den USA geht es im Publikum immer sehr
heftig zur Sache. Es gibt mehr Moshpits und Crowdsurfer. Die Europäer scheinen
hingegen lieber mit zu singen." Interkulturelle Vergleiche kann auch
Mikael Stanne anstellen. Allerdings mit einer anderen Gewichtung. "Wir
spielten kürzlich zwei Gigs in Russland und einen in Weißrussland. Man mag es
kaum glauben, aber ich habe mir fast meinen skandinavischen Arsch abgefroren.
Nur der viele Wodka rettete mich
vor dem Kältetod, haha."
Gute Kinderstube
Der Schritt von der weiten Welt zurück zu den Wurzeln ist groß. In diesem Fall
allerdings nötig, wenn man auf der Suche nach Parallelen ist. Stanne, Jahrgang
1974, wühlt tief in seinem Gedächtnis. Es geht um die Frage, wann er mit dem
Singen begonnen hat. "Das muss irgendwann in meiner Kindheit gewesen sein.
Meine Eltern hatten Platten von Tom Jones, Bonnie Tyler und Rod Stewart, da
sang ich immer mit. Als Schüler wechselte ich dann zur Gitarre, sang allerdings
nebenbei im Schulchor. Die Gitarre legte ich irgendwann wieder bei Seite, weil
ich kein großes Talent dafür habe. Aber dem Gesang blieb ich immer treu. Ich
habe übrigens niemals einen professionellen Lehrer gehabt, auch wenn das sicher
besser gewesen wäre. Aber ich habe bis heute Schiss, dass ein Profi viele Tipps
für mich
hätte und sich dadurch mein Stil komplett verändern würde." Vreth, der
1982 aus seiner Mutter schlüpfte, nickt zustimmend. "Bei mir ist es nicht
viel anders. Ich habe als Kind meine Leidenschaft entdeckt, spielte dann in
diversen Schul- und Hobby-Bands. Das erste Mal vor Publikum sang ich jedoch aus
einem anderen Grund. Ich war in einer Band mit der traditionellen Besetzung
Schlagzeug, Gitarre und Bass. Ich spielte Bass und war als einziger in der
Lage, mein Instrument zu bedienen und gleichzeitig etwas ins Mikro zu brüllen.
Also wurde ich offiziell Sänger", lacht der Finne. "Einzelstunden
habe ich auch nie genossen, aber im Rahmen meines Musikstudiums habe ich
einiges über die Theorie gelernt. Auch wenn mir das bei FINNTROLL nur am Rande
hilft." Auffällig ist, dass beide Protagonisten scheinbar problemlos
zwischen klarem Gesang, Growls und hohen Schreien wechseln können. Ganz ohne
Technik kann das doch nicht funktionieren, oder? "Nein", stimmt Vreth
zu, "ganz ohne sicher nicht. Aber da hat jeder so seine eigenen Rezepte.
Ich weiß zum Beispiel selbst, dass meine Technik beim klaren Singen äußerst
mangelhaft ist. Deshalb baue ich es nicht so oft ein. Am leichtesten fallen mir
interessanterweise die hohen Schreie. Viele Sänger haben gerade davon den
größten Respekt. Mir fällt es leicht, weil ich in den Neunzigern in einigen
Black Metal-Bands der alten Schule gesungen habe." Mikael kann sich ein Grinsen
nicht verkneifen. "Witzig, mir liegen die hohen Schreie auch am ehesten.
Und das ohne den Black Metal-Hintergrund. Das Growlen fällt mir am schwersten,
weil man sich damit schnell die Stimme ruinieren kann, wenn man es nicht
richtig anpackt. Aber darauf nehme ich keine Rücksicht. Ich schaue mir immer
an, was der jeweilige Song meiner Meinung nach benötigt und setze
dementsprechend meine Stimme ein."
Die lieben Kollegen
Ein weiterer wichtiger Job des Sängers ist das Verfassen der Texte. Zumindest
ist das bei den meisten Combos so. In unserem Fall teilen sich die Frontmänner
diese Aufgabe. "Unser Gitarrist Niklas Sundin hat zu Beginn alle Texte bei
DARK TRANQUILLITY geschrieben. Mittlerweile teilen wir uns die Arbeit, wobei
ich den Großteil erledige. Wenn er etwas schreibt, das ich nicht verstehe,
frage ich ihn. Schließlich muss ich es ja singen. Aber da gab es bei uns noch
nie Probleme. Wir sind zusammen aufgewachsen und arbeiten seit dem ersten Tag
so", erläutert Stanne. "Bei uns sieht das etwas anders aus",
meint Vreth. "Katla (Jan "Katla" Jämsen stand bei FINNTROLL bis
2001 hinter dem Mikro, musste aufgrund von Stimmbandproblemen aber in den
Hintergrund treten ? Anm.d.A.) hat die meisten Ideen und verfasst
dementsprechend die meisten Text. Ich arbeite nur mit. Meine Stärke ist eher
das Arrangieren von Song. Großartige Diskussionen gibt es dadurch aber nicht.
Schließlich handeln die Texte bei FINNTROLL nicht von religiösen oder
politischen Dingen, deshalb singe ich seine Sachen sehr gerne." Und zwar auf
Schwedisch, denn Mathias "Vreth" Lillmåns gehört zur
schwedischsprachigen Minderheit im Land von Janne Ahonen. "Ich bin in
Finnland geboren, spreche beide Sprachen. Ich habe zwar ein paar Verwandte in
Schweden, aber ich fühle mich
absolut als Finne." Trotzdem sei die Frage nach der besten schwedischen
Band aller Zeiten erlaubt. "OPETH", kommt es gleichzeitig wie aus
zwei Pistolen geschossen. Mikael beginnt mit seiner Begründung. "Ich kenne
Mikael Åkerfeldt schon seit meiner Jugend und beobachte diese großartige Band
seit ihrer Gründung. Sie sind einzigartig." Vreth kann dem nur zustimmen.
"Mikael beherrscht sowohl das Growlen als auch den klaren Gesang so
perfekt wie niemand sonst. Daneben bewundere ich noch Adam "Nergal"
Darski von BEHEMOTH, weil er ebenfalls eine einzigartige Technik beim Singen
anwendet. Die beiden letzten Alben haben mich
weggeblasen. Zu meinen absoluten Favoriten gehört zudem Daniel
"Mortuus" Rostèn von MARDUK, weil ich im Extrem-Bereich niemanden
kenne, der seine Stimme so kreativ einsetzt." Stanne fallen hingegen ein
paar andere Könner ihres Fachs ein. "Wenn es um die traditionelle
Metal-Stimme geht, dann würde ich Jorn Lande (unter anderem MASTERPLAN, JORN ?
Anm.d.A.) nennen. Typischer geht es einfach nicht. Im extremen Bereich liebe
ich Mille Petrozza von KREATOR und Peter Dolving von THE HAUNTED. Außerhalb des
Metal-Genres stehe ich total auf den leider früh verstorbenen Folk-Sänger Jeff
Buckley. Bei seiner Musik kann ich am besten entspannen."
Was nicht passt ...
Auch wenn beide Musiker viel in der Weltgeschichte herumreisen und auf
unzähligen Festivals gespielt haben, sind sie sich vor diesem Interview noch
nie persönlich begegnet. Nach dem rund einstündigen Gespräch haben sie
abschließend nur Nettigkeiten über ihren Counterpart zu sagen. Vreth macht den
Anfang. "Ich saß erst kürzlich bei einem Kumpel und habe mir DARK
TRANQUILLITYs neue DVD »Where Death Is Most Alive« reingezogen. Ein komplettes
Meisterwerk. Ich stehe echt auf eure Musik, auf diesen Göteborg-Sound." Das
nimmt Mikael Stanne gerne zur Kenntnis, möchte aber noch etwas voran schicken.
"Früher hat mich
dieses Etikett Göteborg tierisch gestört, weil wir aus meiner Sicht völlig
anders klingen als AT THE GATES oder IN FLAMES. Und mit dieser Meinung stehe
ich nicht alleine da. Mittlerweile sehe ich es aber eher als Auszeichnung. Ich
meine, aus diesem kleinen schwedischen Kaff (mit weit über 800.000 Einwohnern
die zweitgrößte Stadt des Landes ? Anm.d.A.) sind besonders in den Neunzigern
viele großartige Bands gekommen. Für mich
besteht die Übereinstimmung nicht im Sound, sondern in der Qualität der Musik.
Wir haben alle gemeinsam einen sehr hohen Standard eingeführt. Göteborg ist
heute so etwas wie ein Stempel, der ein gewisses Niveau garantiert. Eine
weitere Gemeinsamkeit ist die mentale Haltung, die wir zur Musik im Allgemeinen
haben." Nach diesem kleinen Exkurs in die Welt der philosophischen
Musiktheorie geht es zurück zu FINNTROLL. Stanne überlegt einen Moment.
"Eigentlich sind wir ja böse Konkurrenten, wenn es um die Plattenverkäufe
geht", meint Mikael unter dem Gelächter seines Kollegen. "Aber
Mathias scheint ein sehr netter Kerl zu sein. Wenn er mir nicht gerade ins
Gesicht brüllt, kann man prima Wodka mit ihm trinken. Ich gebe zu, dass
FINNTROLLs Musik nicht zu hundert Prozent meine Baustelle ist und ich sie was
die Alben angeht in den letzten Jahren ein wenig aus den Augen verloren habe.
Aber ich schaue sie mir immer live an, wenn sie bei mir in der Nähe spielen.
Auf der Bühne sind sie äußerst unterhaltsam. Vielleicht könnten wir mal
zusammen auf Tour gehen. Wir haben beide ein ziemliches Crossover-Publikum, das
nicht auf ein Genre festgelegt ist. Die Kombination könnte funktionieren."
Vreth möchte da nicht widersprechen. "Wir haben da sowieso keine Berührungsängste.
Vor einiger Zeit sind wir mit SIX FEET UNDER und NILE
getourt. Man kann nicht behaupten, dass diese Bands besser zu uns gepasst
hätten als DARK TRANQUILLITY." Und so endet eine gemütliche Plauderstunde
in Helsinki mit
der Erkenntnis, dass auf den ersten Blick unterschiedliche Metal-Sänger am Ende
mehr gemeinsam haben können, als vermutet. Darauf noch 'nen Wodka!